Demokratie ist ein Lebensstil

von Rainald Manthe und Lukas Daubner

Um Schulpolitik und Schule besser zu machen, muss sie sich grundlegend ändern. Unsere Autoren Rainald Manthe und Lukas Daubner fordern, dass Schüler_innen ernsthaft an Entscheidungen des Schulalltags mit einbezogen werden. Demokratie in der Schule darf nicht nur Thema von Politikunterricht und Teil von Unterrichtseinheiten sein. Wir Erwachsenen müssen lernen, die Meinung der Kinder und Jungendliche ernst zu nehmen. Ein Plädoyer für eine demokratische Schulbildung.

Berlin, Mai 2015: 150 junge Menschen, darunter viele Schüler_innen diskutieren Probleme des deutschen Bildungssystems und zeigen Lösungswege aus ihrer Sicht dafür auf. Wie soll gute Bildung aussehen? Wie müssen Bildungsinstitutionen dafür ausgestaltet sein? Welcher politische Rahmen wird dafür benötigt? Auf dem von der Bildungsinitiative Was bildet ihr uns ein? e.V. organisierten Jungen Bildungskongress waren Debatten darüber zwei Tage lang Realität. Die Veranstaltung ist ein Raum, in dem gemeinsam Gedanken ausgetauscht und neue Ansätze erdacht werden. Die Teilnehmenden lernen, ihre Meinungen zu formulieren und sich mit verschiedenen anderen auseinanderzusetzen. Ein wichtiges Prinzip dabei: Man begegnet sich auf Augenhöhe. Die jungen Menschen werden als Expert_innen ihres Alltags ernst genommen. Das führt dazu, dass sie in die Lage versetzt werden, aus ihrer Sicht Handlungsbedarf für Schule, Lehrende und Politik aufzuzeigen.

Eine Erkenntnis, die nach den zwei Tagen Bildungskongress bleibt, ist: Junge Menschen sind sprechfähig. Sie haben eine sehr klare Wahrnehmung von ihrer Umwelt. Sie sehen, was nicht funktioniert, und spüren, wenn sie übergangen werden. Gleichzeitig haben sie aber auch Ideen, wie es anders gehen könnte. Allerdings muss man sie danach fragen. Diese wertvolle Ressource wird fast ausnahmslos verschenkt, wie zuletzt Wolfgang Gründinger feststellte. Ist der richtige Rahmen gegeben, können sich junge Menschen für ihre Umgebung begeistern. Dürfen sie mitbestimmen, erleben sie, dass sie als Teil der Gesellschaft ernst genommen werden. Das gilt auch für die Schule.

Projekte sind wichtig, aber nicht alles

Nun ist der Junge Bildungskongress nur ein Projekt, das nach zwei Tagen wieder vorbei ist, noch dazu ein außerschulisches. Auch in Schulen gibt es vielfältige Formen von Projekten, in denen Demokratie und demokratisches Lernen im Mittelpunkt stehen. Die „Lernstatt-Demokratie“, „Dialog macht Schule“ oder Service-Learning sind nur einige Beispiele dafür.

Hinzu kommen Sozialkunde- und Politikunterricht oder Einheiten zu politischen Ereignissen. Kaum jemand würde ernsthaft behaupten, dass beides unwichtig wäre. Aber: Demokratie in der Schule muss weit mehr sein als Projekte und Politikunterricht. Mehr als einzelne Inseln des Mitbestimmens oder der abstrakten Beschäftigung mit dem politischen System.

Projekte sind wichtig: In Projekten und Kooperationen mit außerschulischen Akteur_innen entstehen Räume, in denen sich intensiv mit Mitbestimmung auseinandergesetzt werden kann. Sie können der Anstoß einer tieferen Beschäftigung mit dem Thema Demokratie sein. Außerhalb des Unterrichtsalltags können Schüler_innen, aber auch ihre Lehrer_innen lernen, wie man eine Meinung mitteilt, wie darüber diskutiert werden kann und welche Möglichkeiten der Mitbestimmung existieren. Auch der Politikunterricht vermittelt wertvolle, grundlegende Kenntnisse zur Funktionsweise von politischem System und Demokratie. Aber hier darf das Thema Demokratie in der Schule nicht aufhören oder gar abgehakt werden. Demokratie muss auch in der Schule ein Lebensstil werden. Doch wie kann das aussehen? Ein Beispiel sind Demokratische Schulen.

Demokratische Schulen machen es vor

Demokratische Schulen haben Demokratie am tiefsten verinnerlicht. In ihnen – etwa den Sudbury-Schulen – wird Demokratie als Lebensstil am radikalsten verwirklicht: kein verbindlicher Lehrplan, basisdemokratische Entscheidungsstrukturen, von der Schulgemeinschaft gemeinsam festgelegte Regeln. Das zentrale Prinzip ist dabei, dass Schüler_innen über ihre Zeit selbst und frei bestimmen. Sie bestimmen darüber, was und wie gelernt wird, Lehrende stellen ihnen lediglich Angebote zur Verfügung. Daneben bestimmen alle Mitglieder der Schule über deren Strukturen mit: Jedes Schulmitglied hat bei Abstimmungen, etwa in der Schulversammlung, eine Stimme. Kinder und Jugendliche werden nicht als zu formende Geschöpfe verstanden, sondern als selbstbestimmte Wesen akzeptiert. Demokratisch Leben und Lernen ist hier ein Ziel, aber auch eine Methode.

In Deutschland sind Schulen, die dieses Konzept mehr oder wenig umsetzen, rar gesät. In der Regel ist das persönliche Engagement Einzelner entscheidend für eine demokratische Kultur an der Schule.

Natürlich birgt das Konzept der Demokratischen Schulen auch Probleme. Insbesondere auf demokratische Entscheidungsstrukturen umzustellen, ist für alle Beteiligten herausfordernd. Allerdings zeigen die existierenden Beispiele, dass sich die Anstrengung für die Kinder und Jugendlichen, aber auch für die Lehrenden lohnt. Außerdem zeigen sie, dass demokratische Schulgestaltung und Lernen sich nicht widersprechen, sondern ganz im Gegenteil, dass Demokratie und Schule zusammen gehören. Damit ein ehrlicher, demokratischer Lern- und Lebensstil die Norm wird, muss dieser aber pädagogisch und politisch gewollt und gefördert werden.

Demokratie ist ein Lebensstil

Mit- und Selbstbestimmung kann in allen schulischen Bereichen stattfinden, sei es bei der Pausen- oder Unterrichtsgestaltung oder dem gemeinsamen Finden von Klassen- oder Schulregeln. Die Vorstellung, „Erwachsene“ wüssten besser, was gut für junge Menschen ist, verhindert nachhaltig eine demokratische Struktur an Schulen. Demokratische Schulen hingegen zeigen in ihren verschiedenen Ausprägungen, dass Schüler_innen selbst bestimmen können, wann Wissen abgefragt wird, welche Spielgeräte angeschafft oder welche Einheit als nächstes thematisiert werden soll.

Damit so ein Prozess in Gang getreten werden kann, müssen die Lehrenden und die Schulleitung als Erstes danach fragen, in welchen Bereichen und bei welchen Fragen die Kinder und Jugendlichen mitbestimmen wollen. Natürlich müssen die jungen Menschen dafür bereits gelernt haben, ihre Wünsche zu artikulieren. Hierbei können etwa Projekte wie die SchulBank der YouthBank Deutschland helfen. Wichtig ist – wie oben bereits betont wurde –, dass nicht bei Projekten aufgehört wird.

Es muss früh damit begonnen werden, Kindern zu verdeutlichen, dass sie eine Meinung haben, die etwas zählt. Wenn sie erkennen, dass sie eine Stimme haben, die gehört wird, lernen sie, damit verantwortungsbewusst umzugehen. Darauf aufbauend sollten Schüler_innen, Eltern und Lehrende gemeinsam erarbeiten, wie dauerhafte Mitbestimmung in der Schule möglich ist. Nur wenn alle an der Schule vertretenen Gruppen zusammenarbeiten und auf dem Weg zu mehr Demokratie mitgenommen werden, kann Schule dauerhaft demokratischer werden.

Effekte gelebter Demokratie an Schulen

Bekommen Kinder und Jugendliche tatsächliche Gestaltungsmöglichkeiten in der Schule, hat das vielfältige Effekte: Zuallererst erfahren sie Wertschätzung. Ihr Urteilsvermögen wird anerkannt und die Schüler_innen können sich als wichtigen Teil der Gesellschaft fühlen. Darüber hinaus erhalten sie die Gelegenheit sich auszuprobieren. Sie erfahren, was es bedeutet, Verantwortung für Entscheidungen zu tragen.

Außerdem lernen die Beteiligten, dass es nicht einen richtigen Weg gibt (den die Erwachsenen vorgeben). Somit wird Akzeptanz von anderen Meinungen und Vielfalt gefördert. Das stärkt ganz entscheidend nicht nur den Zusammenhalt in der Schule, sondern auch die Demokratie im ganzen Land. Je vielfältiger die Schüler_innenschaft zusammengesetzt ist, desto mehr zeichnet sie die gesellschaftliche Realität nach und desto besser werden die Schüler_innen auf diese vorbereitet.

Neben der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die Schule hat, hat Demokratie leben in der Schule auch konkrete Vorteile für den Schulalltag. Zunächst einmal setzen demokratische Elemente ein hohes Maß an Kommunikation voraus. Schüler_innen, Lehrkräfte und die Schulleitung müssen sich über Perspektiven und Probleme austauschen. Damit kann ein gegenseitiges Verständnis für die jeweils andere Gruppe geschaffen werden. Insbesondere Probleme und Wünsche seitens der Schüler_innen rücken auf diese Weise in den Fokus der Erwachsenen. Wenn die Wünsche und Forderungen der Schüler_innen dann auch ernst genommen und durch Mitbestimmung realisiert werden, verbessert dies das Schul- und somit das Lernklima deutlich.

Eine demokratischere Schule trägt auch zur Qualitätsentwicklung bei. Durch regelmäßige Beteiligung an der Basis kommen Probleme und Ideen schneller zum Vorschein, als wenn Schüler_innen und ihre Leistungen nur problematisiert werden. Werden junge Menschen gefragt und haben sie das Gefühl, ernst genommen zu werden, artikulieren sie auch Unzufriedenheiten und Verbesserungsvorschläge.

Demokratie muss gelebt und gelernt werden

Demokratie ist nicht nur ein abstraktes Konzept, welches die Herrschaft von wenigen durch die Herrschaft von vielen abgelöst hat. Sie ist ein Lebensstil, der verinnerlicht werden muss.

Das gilt für alle politischen Belange, für das Elternhaus, aber eben auch und besonders für die Schule. Warum sollten Kinder und Jugendliche nicht in der Institution mehr mitbestimmen dürfen, in der sie die meiste Zeit ihres jungen Lebens verbringen? Wo soll die junge Generation demokratisch leben lernen, wenn nicht auch in der Schule? Dies sind die Fragen, die wir Erwachsenen uns stellen müssen, wenn wir über Demokratie in der Schule nachdenken. Sich gegen mehr demokratische Elemente auszusprechen, wäre ein fatales Signal an den Nachwuchs.

Natürlich setzt dies ein Umdenken voraus: Schule darf nicht mehr nur von der Schulleitung, der Politik und den Lehrenden her gedacht werden, sondern von Schüler_innen und ihrer Lebensrealität her. Demokratie verändert Schule, ebenso wie sich (idealerweise) demokratische Gesellschaften fortwährend verändern. Davor darf man keine Angst haben.

Dabei helfen die oben angesprochenen Projekte, dabei hilft auch der Politikunterricht. Um aber Demokratie wirklich zu leben, muss weiter gedacht und gehandelt werden. So könnten zum Beispiel ähnliche Formate wie der Junge Bildungskongress regelmäßig – etwa jedes Quartal oder Halbjahr – in den Schulalltag integriert werden. Nicht als Projekt mit begrenzter Reichweite, sondern als fester Bestandteil des Schulalltags – und als erster Schritt, Demokratie als Lebensstil auch in der Schule zu verwirklichen. Und damit als Schritt auf dem Weg zu einer zutiefst demokratischen Gesellschaft.

 

Lukas Daubner (geb. 1987) hat Politikwissenschaft und Soziologie in Bielefeld und Roskilde (Dänemark) studiert und sich sein ganzes Studium hochschulpolitisch engagiert. Er interessiert sich für die Frage, wie Hochschulen gesteuert werden können und warum die ganzen guten Ideen die es gibt, nicht einfach umgesetzt werden.

Rainald Manthe (geb. 1987) hat Soziologie und Politikwissenschaften in Duisburg-Essen, Bielefeld und St. Petersburg studiert und sich hochschulpolitisch engagiert. Er promoviert über globale Mikrostrukturen an den Universitäten Bielefeld,  Luzern und Chicago. Er ist Mitglied im Beirat der Stiftung Bildung.

Der Beitrag erschien zu erst in dem Tagungsband der Konferenz Demokratie lernen – Aufgabe der Schule!?  der Friedrich-Ebert-Stiftung die am 19. März in Berlin stattfand, und auf wasbildetihrunsein.de.

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