Bildung in Deutschland: Elf Mythen – elf Tatsachen

von Jutta Allmendinger und Ellen von den Driesch

Bildung gilt als Schlüssel zur Entfaltung der Persönlichkeit, für Erwerbschancen, gute Arbeit, Gesundheit, ein langes Leben und für das Empfinden von Glück und Zufriedenheit. Den Zugang zu Bildung zu öffnen und die Qualität von Bildung zu verbessern gehört daher zu den vordringlichen staatlichen Ansinnen und Aufgaben. Es geht um individuelle »Ermächtigung«, ebenso um wirtschaftliche Notwendigkeiten und gesellschaftliche Imperative.
Individuelle Ermächtigung heißt, Menschen zu befähigen, an Gesellschaft und Gemeinschaft teilzuhaben. Dazu werden kognitive, soziale und emotionale Inhalte in Familien, persönlichen Netzwerken, Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben an die Menschen weitergegeben. Eine so breit verstandene Bildung ermöglicht soziale und politische Teilhabe und den Zugang zum Arbeitsmarkt.

Wirtschaftliche Notwendigkeiten entstehen, da sich Arbeitsmärkte insbesondere für die hoch qualifizierten Tätigkeiten entfalten. Die Digitalisierung schreitet voran, Wissensarbeiter werden gesucht, Geringqualifizierte immer mehr aus dem Arbeitsmarkt verdrängt. Im Jahr 2010 fanden nur ein Viertel der Schulabgänger ohne Abschluss und nur die Hälfte der Abgänger mit einem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz. Bei jenen mit mittlerem Schulabschluss waren es 82 Prozent und bei den ausbildungsplatzsuchenden Abiturienten 97 Prozent. Die durchschnittliche Arbeitslosenquote für 2012 lag bei knapp 7 Prozent. Unter Akademikern betrug sie etwa 3 Prozent, im mittleren Qualifikationsniveau 5 Prozent und bei fehlender Ausbildung 19 Prozent (IAB 2013). Auch beim Einkommen zeigen sich deutliche Unterschiede. Finden Geringqualifizierte überhaupt einen Job, so landen fast 45 Prozent von ihnen im Niedriglohnbereich. Berechnet man für Deutschland das Einkommen über den gesamten Lebensverlauf, erzielen Beschäftigte ohne Ausbildung 243.000 Euro weniger als beruflich Qualifizierte und 1,237 Millionen Euro weniger als Hochschulabsolventen (Smillen/Stüber 2014).
Zeitgleich ändert sich die Beschäftigtenstruktur. Die Belegschaft wird älter. Neues Wissen kann nicht allein durch Zugänge eingekauft werden, alle müssen sich laufend weiterbilden. Auch das stellt neue Aufgaben an das Bildungs- und Ausbildungssystem.

Gesellschaftliche Imperative wachsen mit der Ungleichheit bei Geld und Zeit. Wer eine Beschäftigung und damit Geld hat, verkauft seine Zeit. Wer Zeit hat, dem fehlt oft das Geld, um diese Zeit lebenswert zu gestalten. Auch Partnerschaften werden immer homogener, sie mehren Geld oder Zeit. Das partnerschaftliche Teilen von Geld und von Zeit setzt sich als neues Normallebensmodell nur langsam durch.

Die satten Deutschen

Bildung wird immer wichtiger, auch wenn das seit Jahrzehnten niemand mehr hören will. Abgedroschen und verstaubt kommen die Appelle daher. Was haben wir doch alles erreicht! Der Akademikeranteil steigt, der Anteil der Hochschulzugangsberechtigten liegt so hoch wie noch nie. Ganztagsschulen werden ausgebaut und unsere Jüngsten nun endlich auch in Kinderkrippen versorgt. Wer jetzt nicht zufrieden ist, wird als »inklusiver Dogmatiker« ins »Wolkenkuckucksheim« geschickt. Und überhaupt: Schon längst haben wir überzogen. Ein gewisser Sockel an Bildungsarmen ist schlicht unvermeidbar! Viel zu viele machen heute Abitur! Wir brauchen Lehrlinge, nicht Studenten! Die Quantität geht zulasten der Qualität!
Wir greifen diese und andere Mythen zur Bildungsrepublik Deutschland auf und entgegnen ihnen »evidenzbasiert«: Unter Verweis auf die Situation in anderen europäischen Ländern können wir zeigen, dass viele dieser Überzeugungen empirisch nicht zu halten sind (vgl. Allmendinger/von den Driesch 2015).

Mythos 1: Bildungsarmut ist unvermeidbar.

In Deutschland haben 13 Prozent der heute 25- bis 34-Jährigen keinen Sekundarabschluss (OECD 2014, Eurostat 2014a). Unzureichende kognitive Kompetenzen wurden bei 15 Prozent der 15-Jährigen festgestellt (OECD 2014). Diese Schülerinnen und Schüler besitzen zwar elementare Fähigkeiten im Lesen, Rechnen oder in den Naturwissenschaften. Jedoch können diese Fähigkeiten, so das PISA-Konsortium, einer praxisnahen Bewährung in lebensnahen Kontexten nicht standhalten. Jugendliche ohne Schulabschluss und mit niedrigen kognitiven Kompetenzen können als »bildungsarm« (Allmendinger 1999) bezeichnet werden. Oft wird behauptet: Es braucht dieses »Zehnt« Bildungsarmer. Ein bestimmter Anteil der Gesellschaft könne nicht gebildet und ausgebildet werden.

Ein Blick auf andere europäische Länder belegt: Bildungsarmut ist vermeidbar. In 15 von 28 Mitgliedstaaten der EU ist der Anteil von Jugendlichen ohne Schulabschluss niedriger als in Deutschland. Dies lässt sich nicht einfach mit dem Argument wegwischen, dass den Jugendlichen in anderen Ländern der Schulabschluss »nachgeworfen« werde, also keine Leistung dahinterstecke. Dazu müssen wir uns nur die kognitiven Kompetenzen anschauen: In den Niederlanden, in Finnland, Polen, Irland und Estland sind weniger Jugendliche als in Deutschland kompetenzarm. Diesen Ländern gelingt es zudem, ein gutes durchschnittliches Leistungsniveau zu erzielen. Bildungsarmut lässt sich also vermeiden, ohne die Qualität von Bildung in einem Land zu verringern.

Mythos 2: Soziale Selektivität in den Bildungsergebnissen ist unvermeidbar.

In Deutschland hängen die Bildungschancen und Bildungsergebnisse von Kindern stark von der sozialen Lage und vom Bildungsstand ihrer Eltern ab. Kinder aus bildungsfernen Sozialschichten und mit Migrationshintergrund haben auch bei gleichen kognitiven Leistungen schlechtere Bildungs- und Berufsausbildungschancen als Kinder aus mittleren und hohen sozialen Schichten. Bereits in der Grundschule sehen wir deutliche Unterschiede im Kompetenzerwerb. Kinder aus Akademikerfamilien erreichen durchschnittlich eine höhere Lesekompetenz als Kinder aus Familien, in denen kein Elternteil einen Hochschulabschluss besitzt. Vergleichen wir Kinder mit und ohne Migrationshintergrund, zeigt sich ein ähnliches Bild.

Diese Bildungsungleichheiten setzen sich in der Sekundarstufe fort. Die soziale Herkunft bestimmt wesentlich, welche Schulform die Kinder besuchen: Während 58 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien auf das Gymnasium gehen, trifft dies nur auf 27 Prozent der Kinder von Facharbeitern und sogar nur auf 19 Prozent der Kinder un- und angelernter Arbeiter zu (Prenzel u. a. 2013: 269). Damit sind die Chancen von Kindern aus Akademikerfamilien für einen Gymnasialbesuch fast viermal so hoch wie für Facharbeiterkinder und fast sechsmal so hoch wie für Kinder von Un- und Angelernten. Diese Ungleichheiten finden wir auch bei den erworbenen Kompetenzen. Während 7 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien unzureichende Kompetenzen aufweisen, sind es bei Facharbeiterkindern 16 Prozent und bei Kindern un- und angelernter Arbeiter sogar 22 Prozent. Bleiben wir noch in der Sekundarstufe und schauen auf den Migrationshintergrund. Von den 15-Jährigen mit Migrationshintergrund besuchten nur 29 Prozent ein Gymnasium, bei jenen ohne Migrationshintergrund waren es hingegen 40 Prozent (ebd.: 298).

Der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist nicht zwingend. Dies bestätigt der Blick in die Nachbarländer. In Dänemark, Estland, Finnland, Luxemburg und Schweden beispielsweise beeinflusst die soziale Herkunft den Bildungserfolg nicht so stark wie in Deutschland. Die Erfolgsquoten im Sekundarbereich II unterscheiden sich zwischen Schülern, deren Eltern über einen Abschluss im Tertiärbereich verfügen, und Schülern, deren Eltern einen Abschluss unterhalb des Sekundarbereichs II haben, in den meisten Ländern deutlich weniger als in Deutschland, in Finnland lediglich um 2 Prozentpunkte. Ein vergleichbares Bild sehen wir bei den kognitiven Kompetenzen (European Commission 2013).

Länder, in denen die Bildungsergebnisse wenig durch das Elternhaus vorgeprägt werden, investieren besonders in die frühen Lebensjahre von Kindern und lassen sie wesentlich länger zusammen lernen. Auch die Ausbildung der Lehrkräfte wurde in diesen Ländern massiv durch Anreizsysteme wie Weiterbildung, freie Zeit für die Schülerinnen und Schüler oder Unterstützung durch sozialpädagogische Fachkräfte verbessert. Schwache Schülerinnen und Schüler werden mit gezielten Maßnahmen gefördert, die Autonomie der Schulen wurde erhöht. Diese Beispiele zeigen deutlich, dass sich Bildungsarmut nicht mit einem Begabungsansatz rechtfertigen lässt und sozialer Selektivität in Bildungssystemen mit guten institutionellen Rahmenbedingungen entgegengewirkt werden kann.

Mythos 3: Gegliederte Schulsysteme führen zu höheren Leistungen.

Deutschland gliedert die Sekundarstufe I in unterschiedliche Schultypen, die Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs im Alter zwischen neun und zwölf Jahren dauerhaft voneinander trennt (Eurydice 2013). Solche Kompetenzcluster und möglichst homogene Leistungsgruppen sollen dazu führen, dass die besten Kinder mit und von den Besten lernen. Wenn leistungshomogene Gruppen tatsächlich höhere Leistungen ermöglichen, müsste man in Ländern mit gegliederten Schulsystemen auch höhere Spitzenleistungen sehen als in Schulsystemen, die Kinder nicht so früh aufteilen und auf homogene Leistungsgruppen verzichten.

Das Gegenteil ist der Fall: Bei den Lesekompetenzen (PISA) erzielen 9 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Deutschland sehr hohe Kompetenzwerte (Stufen 5 und 6). In Finnland sind es 14 Prozent, in Frankreich 13 Prozent, in Belgien 12 Prozent, in Irland 11 Prozent und in den Niederlanden sowie Polen 10 Prozent. Auch mit Blick auf die Mathematik¬kompetenzen zeigen sich in Belgien und den Niederlanden besonders viele Kompetenzreiche. Knapp 20 Prozent belegen hier Stufe 5 oder 6. In diesen Ländern wird viel länger gemeinsam gelernt – bis zum Alter von 15, 16 oder 17 Jahren (OECD 2014). Dies heißt nicht, dass die späte Trennung kausal zu dieser Leistungsspitze führt. Hinderlich ist sie aber sicher nicht.

Mythos 4: Eine inklusive Beschulung ist nicht möglich.

Im Schuljahr 2012/13 lag in Deutschland der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf bei über 7 Prozent. Die meisten von ihnen, nämlich 72 Prozent, besuchten eine Sonder- oder Förderschule. An diesen werden beispielsweise Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderung, mit geistiger oder körperlicher Behinderung oder mit Sinnesbehinderung (Sprechen, Sehen, Hören) unterrichtet. Inklusiv beschult wurden 28 Prozent. Dieser Bundesdurchschnitt sagt relativ wenig aus, da sich die Situation zwischen den einzelnen Bundesländern stark unterscheidet. In Bremen wurden 63 Prozent der Schülerinnen und Schüler inklusiv unterrichtet, in Hessen nur 20 Prozent. Bereits dieser innerdeutsche Vergleich zeigt, dass viel Spielraum ungenutzt bleibt. Viele Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf könnten durchaus inklusiv unterrichtet werden (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 178 f.).

Der Blick auf Europa bekräftigt das in besonderer Weise. In der vergleichenden Inklusionsforschung werden drei Systeme unterschieden: das duale System, das Kombinationssystem und das Einheitssystem (vgl. Münch 2009: 4). Deutschland, die Niederlande und die Schweiz werden dem dualen System zugeordnet, da hier besonders Förderbedürftige nicht nur an den allgemeinbildenden Schulen, sondern auch an speziell eingerichteten Sonderschulen unterrichtet werden. Anders verhält es sich in Finnland, Großbritannien und Österreich, die sich durch ein Kombinationssystem auszeichnen. In diesen Ländern gibt es institutionalisierte Brücken zwischen den allgemeinen Schulen und den Sonderschulen. Der Exklusionsanteil liegt bei 1,2 Prozent. Italien, Norwegen und Schweden zählen zu den Ländern mit einem inklusiven Einheitssystem und einem Exklusionsanteil von nahezu 0 Prozent.

Deutschland hat sich rechtlich gebunden. Bereits 2009 wurde die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Damit hat sich Deutschland verpflichtet, das Recht auf Bildung auch von Menschen mit Behinderungen anzuerkennen und auf allen Ebenen »ein inklusives Bildungssystem« zu gewährleisten. Die meisten Bundesländer kommen bei der Umsetzung jedoch nur langsam voran. Zugleich wird um inklusive Bildung eine erhitzte gesellschaftliche Debatte geführt. Denn das Sonderschulwesen ist in Deutschland fest verankert. Die Überzeugung, dass es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Schonraum geben müsse, ist weitverbreitet und gesellschaftlich tief verwurzelt. Umso mehr braucht es ein besonnenes und entschlossenes Vorgehen, unterstützt durch die notwendige Aufstockung des Bildungsbudgets und die entsprechende Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern.

Inklusive Bildung stellt große pädagogische Herausforderungen an alle Einrichtungen des Bildungssystems. Alle Personengruppen, die an diesem Prozess beteiligt sind, müssen daher in die Umgestaltung des Bildungswesens mit einbezogen werden. »Das gilt nicht nur für das sich noch in Ausbildung befindliche zukünftige Personal, sondern auch für das gegenwärtig bereits berufstätige Fachpersonal im […] frühpädagogischen Bereich und in den Lehramtsstudiengängen, […] im Übergangssystem, bei der dualen Ausbildung, im Schulberufssystem und nicht zuletzt auch im Hochschulbereich. Der Lehrerfort- und -weiterbildung kommt hier eine zentrale Rolle zu« (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 201).

Mythos 5: Menschen bilden sich nur dann, wenn sich Bildung auch auszahlt.

Viele theoretische Ansätze gehen davon aus, dass es besonderer finanzieller Anreize bedarf, damit Menschen sich bilden und ausbilden lassen. Dies wird vor allem damit begründet, dass man während der Bildung und Ausbildung auf eigenes Einkommen verzichte und dieser Verdienstausfall durch entsprechende Bildungsrenditen später kompensiert werden müsse. Diese Bildungsrenditen müssten dann umso höher ausfallen, je entbehrungsreicher die Zeiten von Bildung und Ausbildung waren.

In dieser Logik ist Bildung kein Konsumgut, es ist eine Investition. Diese zahlt sich dadurch aus, dass man mit einer höheren Bildung eher einen Arbeitsplatz findet und mehr verdient als mit niedriger Bildung. Dies ist in Deutschland der Fall: Mit einem höheren Qualifikationsniveau sinkt die Arbeitslosenquote, die Chance auf Beschäftigung aber steigt, ebenso der durchschnittliche Lohn. Doch dies ist längst nicht in allen Ländern so. In Litauen, Griechenland, Großbritannien, Belgien, Frankreich, Irland, Finnland, Dänemark und Schweden unterscheidet sich der Stundenlohn von Geringqualifizierten kaum von dem, den Menschen mit mittlerem Qualifikationsniveau erhalten; in Dänemark und Schweden ist auch die Lohnspreizung zwischen Menschen mit mittlerem Qualifikationsniveau und Akademikern äußerst gering. Dies bestätigt sich, wenn man die Stundenlöhne nach erreichtem Kompetenzniveau betrachtet. In Finnland, Schweden und Dänemark ergeben sich niedrige Unterschiede in den Stundenlöhnen nach Kompetenzniveau, in Großbritannien, Polen, Spanien und Deutschland liegen die Stundenlöhne dagegen weit auseinander.

Was zeigt uns das? Offensichtlich ist Bildung ein Wert für sich, eine Investition, die sich auszahlt, wenngleich nicht notwendig in cash. Statt Jahre der Entbehrung zu betonen, stehen Werte im Vordergrund, die auf die Ermächtigung durch Bildung für das gesamte Leben setzen.

Mythos 6: Je mehr Menschen eine gute Bildung haben, umso weniger ist Bildung wert.

»Was wenige haben, ist auf dem Arbeitsmarkt ein besonders wertvolles Gut.« Mit diesem intuitiv einleuchtenden Argument wird gern davor gewarnt, zu vielen Menschen das Abitur oder ein Hochschulstudium zu ermöglichen. Die Bildungsinflation führe zu einer Deflation der Bildungserträge, weswegen Menschen sich keiner Bildung mehr unterziehen würden (siehe oben). Diesem Zusammenhang kann man empirisch nachgehen und die Bildungsrenditen in Deutschland über die Zeit untersuchen: Führte die Bildungsexpansion zu niedrigeren Bildungserträgen? Mit Blick auf Europa kann man weiter fragen: Sind die Bildungsrenditen in Ländern mit einem hohen Akademikeranteil besonders niedrig?

Die Bildungsexpansion in Deutschland hatte keine geringeren Bildungsrenditen zur Folge, im Gegenteil: Die Lohnspreizung zugunsten von Akademikern ist heute größer denn je. International zeigt sich ein uneinheitliches Bild. In den USA und Großbritannien gibt es vergleichsweise viele Hochschulabsolventen, ebenso fallen die Bildungsrenditen besonders hoch aus. Dänemark, Schweden, Finnland und Belgien haben ebenfalls sehr hohe Akademikeranteile, die Einkommensunterschiede zwischen den Bildungsgruppen sind aber, wie wir gesehen haben, sehr niedrig. Österreich verzeichnet wenige Hochschulabsolventen, die Einkommensprämien sind dennoch niedrig. In Deutschland, Portugal und Rumänien erzielen die relativ wenigen Hochschulabsolventen hohe Bildungsgewinne.

Entsprechend sieht es bei den Kompetenzen aus. Auch hier wäre zu vermuten, dass die Kompetenzrenditen dann besonders hoch ausfallen, wenn nur wenige Menschen über hohe Kompetenzen verfügen. Dies ist nicht der Fall. So liegen in Belgien 12 Prozent der Bevölkerung auf den höchsten Kompetenzstufen 4 und 5, ihre »Kompetenzrendite« beträgt 21 Prozent. In Großbritannien liegt der Anteil von Menschen mit hohen Kompetenzen bei 13 Prozent, ihre »Kompetenzrendite« dagegen bei 66 Prozent (OECD 2013).

Diese Beispiele verdeutlichen, dass kein Automatismus zwischen dem Anteil von Menschen mit hoher Bildung und den Bildungsrenditen besteht. Vielmehr ist entscheidend, wie sich der Arbeitsmarkt entwickelt und wie stark der landwirtschaftliche, der industrielle und der Dienstleistungssektor jeweils vertreten sind. Die Globalisierung und die sich ausbreitende Wissensgesellschaft führen in vielen Ländern zu einem hohen Bedarf an gut ausgebildeten Menschen. Eine Sättigung ist nicht in Sicht. Der Übergang von der Ausbildung in die erste feste Stelle gelingt im hohen Qualifikationsbereich meist relativ zügig und unproblematisch.

Mythos 7: Deutschland hat nur geringe Probleme mit der Jugendarbeitslosigkeit.

Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in Deutschland bei aktuell 3,5 Prozent (Eurostat 2014b). Im europäischen Vergleich ist dieser Wert sehr niedrig, allein Dänemark und die Niederlande stehen mit 3 Prozent besser da. Alle anderen Länder verzeichnen wesentlich mehr Jugendliche, die arbeitslos gemeldet sind, vor allem Spanien (17 Prozent) und Griechenland (22 Pro¬zent). Ein ähnliches Bild zeigt sich, wenn man statt der Arbeitslosigkeit den nun international geläufigen Indikator der NEETs heranzieht. Dies sind Menschen, die sich nicht in Beschäftigung, Bildung oder Ausbildung befinden. Zu den Arbeitslosen kommen hier also die Inaktiven hinzu, die sich aufgrund schlechter Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt oder kultureller Normen gar nicht um Beschäftigung bemühen. In Deutschland beträgt deren Anteil 5 Prozent, in Ungarn 11 Prozent, in Rumänien 13 Prozent, in Italien 15 Prozent und in Bulgarien 17 Prozent.

Zwar fallen Jugendarbeitslosigkeit und Stille Reserve in Deutschland niedrig aus, doch nach wie vor bleibt das Problem mit dem sogenannten Übergangssystem ungelöst. 2013 mündeten über 250.000 ausbildungsinteressierte Jugendliche in das Übergangssystem ein, das sind rund 3 Prozent aller 15- bis 24-Jährigen. Dabei handelt es sich insbesondere um Jugendliche ohne Hauptschulabschluss (drei Viertel aller Jugendlichen ohne Abschluss), mit Hauptschulabschluss (zwei Fünftel aller Abgänger mit Hauptschulabschluss), aber auch, allerdings mit weitem Abstand, um Jugendliche mit einem mittleren Schulabschluss (ein Sechstel der Abgänger mit mittlerem Abschluss). Studienberechtigte spielen keine Rolle im Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 99). Bei allen Kate¬gorien schulischer Vorbildung ist die Übergangssituation ausländischer Jugendlicher noch sehr viel ungünstiger als die der deutschen. Ausländische Jugendliche bilden annähernd 85 Prozent der Neuzugänge ohne Haupt¬schulabschluss und fast drei Fünftel mit Hauptschulabschluss. Selbst bei denjenigen mit mittlerem Abschluss liegt die Quote der ausländischen Jugendlichen im Vergleich zu den deutschen knapp doppelt so hoch (ebd.: 100). Gegenüber Frauen sind Männer weitaus stärker von Übergangsschwierigkeiten betroffen. Drei Fünftel aller Jugendlichen, die im Übergangssystem landen, sind männlich (ebd.).

Um diese 250.000 Jugendlichen nicht früh im Lebensverlauf zu verlieren, sind vor allem verbindliche und institutionenübergreifende Gestaltungskonzepte notwendig. Unterschiedliche Bildungsinstitutionen, etwa allgemeinbildende und berufliche Schulen, müssen mit Institutionen des Sozialsystems, beispielsweise der Jugendhilfe, und des Arbeitsmarkts, also mit den Betrieben und der Arbeitsverwaltung, zusammenarbeiten (ebd.: 11). Darüber hinaus ist es entscheidend, früh im Lebensverlauf mit präventiven Maßnahmen anzusetzen und so den Sockel von Menschen ohne Abschluss von Anfang an zu reduzieren.

Mythos 8: Berufliche und akademische Bildung sind gleichwertig.

Immer wieder wird betont, dass in Deutschland eine berufliche und eine akademische Ausbildung gleichwertig seien. Blickt man auf den Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt, so ist dies richtig. Der Beschäftigtenanteil beider Gruppen unterscheidet sich kaum und liegt wesentlich höher als bei jungen Menschen ohne Ausbildung. Nimmt man die Bezeichnung »gleichwertig« aber wörtlich und bezieht sie auf den Gegenwert der Arbeitskraft, das Einkommen, kann keine Rede mehr davon sein. In Deutschland verdienen akademisch Qualifizierte 70 Prozent mehr als beruflich Ausgebildete (in Österreich 50 Prozent). Sehr niedrige Bildungsrenditen für Akademiker findet man in Schweden, Dänemark und Finnland. Noch deutlicher wird der Unterschied mit Blick auf das Lebenseinkommen. In Deutschland verdienen Hochschulabsolventen mit durchschnittlich 2.320.000 Euro das bis zu 1,75-Fache dessen, was Personen mit einer Berufsausbildung erhalten (1.325.000 Euro) (Schmillen/Stüber 2014).

Will man die Attraktivität des »Exportschlagers duale Ausbildung« wahren und steigern, muss man dringend (auch) an der Tarifierung ansetzen.

Mythos 9: Die Systeme beruflicher und akademischer Bildung sind horizontal durchlässig.

Die aktuelle Debatte über die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung konzentriert sich hauptsächlich auf die Gruppe derjenigen, die über den sogenannten dritten Bildungsweg an die Hochschule gelangen. Die Regelungen zum Erhalt der Studienberechtigung für beruflich Qualifizierte ohne allgemeine oder Fachhochschulreife wurden 2009 von der Kultusministerkonferenz länderübergreifend vereinheitlicht und erweitert (KMK 2009). So haben Meister im Handwerk und Inhaber vergleichbarer Qualifikationen im Sinne des Seemannsgesetzes eine allgemeine Hochschulzugangsberechtigung erhalten.

Dennoch sind die Anteile der Studienanfänger über den dritten Bildungsweg niedrig und bewegen sich bei 2,6 Prozent im Jahr 2012. Dabei liegt der Altersdurchschnitt erwartungsgemäß deutlich über dem derjenigen, die sich über den ersten Bildungsweg an der Hochschule immatrikulieren. Fast jeder Zweite ist zwischen 23 und 30 Jahre alt, und 43 Prozent sind älter als 30 Jahre. Auch die Art der Hochschule unterscheidet sich deutlich. Von den sogenannten nicht traditionellen Studienanfängern wählen 24 Prozent ein Hochschulstudium an der Fernuniversität Hagen, und 23 Prozent immatrikulieren sich an einer privaten Hochschule (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014). Möglicherweise lassen sich hier die Studienanforderungen besser mit familiären und/oder beruflichen Verpflichtungen verbinden.

Mythos 10: Die berufliche Weiterbildung ist auf einem guten Weg.

In einer Gesellschaft, die sich immer stärker zu einer Wissensgesellschaft entwickelt, muss das erworbene Wissen stetig angepasst und um neue Kenntnisse wie Fertigkeiten ergänzt werden. In diesem Zusammenhang nimmt die berufliche Weiterbildung eine zentrale Rolle ein.
Die Teilnahmequote an betrieblicher Weiterbildung hat sich zwischen 2007 und 2010 von 29 Prozent auf 26 Prozent leicht verringert, stieg dann aber auf 33 Prozent im Jahr 2012. Die Quote für individuelle berufsbezogene Weiterbildung stagniert seit 2007 bei 13 Prozent (Bilger u. a. 2013). Entsprechende Analysen zeigen, dass sich Erwerbstätige (45 Prozent) wesentlich stärker als Arbeitslose (6 Prozent), Vollzeitbeschäftigte (48 Prozent) stärker als Teilzeitbeschäftige (36 Prozent), Beamte (73 Prozent) und Angestellte (51 Prozent) stärker als Arbeiter (31 Prozent) und Selbstständige (29 Prozent), Führungs- und Fachkräfte (69 und 53 Prozent) stärker als Un- und Angelernte (28 Prozent) an betrieblicher Weiterbildung beteiligen.

Betrachtet man die Verteilung nach dem Bildungsabschluss, zeigt sich ein ähnliches Bild: Insbesondere Personen mit hohem Schulabschluss (42 Prozent), einem Meister- oder Fachschul- sowie einem (Fach-)Hochschulabschluss (50 Prozent) durchlaufen eine berufliche Weiterbildung, Personen ohne Berufsabschluss dagegen nur zu 15 Prozent. Folglich bilden sich vor allem diejenigen weiter, die bereits über eine hohe formale Qualifikation verfügen, eine entsprechende berufliche Stellung beziehen und damit eher weniger eine betriebliche Weiterbildung benötigen. Dagegen fällt der Anteil derjenigen, für die der Wert der beruflichen Weiterbildung besonders hoch wäre (etwa für Un- und Angelernte oder Personen ohne Schulabschluss), gering aus.

Über die Zeit führte die insgesamt höhere Teilnahme an Weiterbildungen nicht dazu, dass sich die Abstände zwischen den sozialen Gruppen verringert haben. Für Personen mit Migrationshintergrund vergrößerte sich der Abstand zu allen anderen Gruppen sogar. Angesichts dieser ungleichen Verteilung ist die berufliche Weiterbildung noch weit davon entfernt, auf einem guten Weg zu sein. Insbesondere für Personen mit fehlender oder geringer schulischer beziehungsweise beruflicher Qualifikation müssen zukünftig Möglichkeiten geschaffen werden, sich betrieblich und individuell weiterzubilden.

Mythos 11: Die Ausgaben für Bildung liegen auf einem hohen Niveau.

Zweihundertsiebenundvierzig Milliarden achthundert Millionen Euro – so hoch waren die Ausgaben der Bundesrepublik Deutschland für Bildung, Forschung und Wissenschaft im Jahr 2012. Das sind 9,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) (Vogel u. a. 2014). Betrachtet man allerdings nur das Budget für Bildungseinrichtungen in öffentlicher und privater Trägerschaft, reduziert sich der Wert auf 5,1 Prozent des BIP.

Um diese 5 Prozent des BIP schwanken die Bildungsausgaben in Deutschland bereits seit über zehn Jahren. Seit eben dieser Zeit liegen sie auch unter dem europäischen Durchschnitt (2011: 5,25 Prozent). Ein Vergleich mit den Nachbarländern zeigt: Während die skandinavischen Länder mit bis zu fast 9 Prozent am meisten für Bildung ausgeben, befindet sich Deutschland mit den süd- und osteuropäischen Ländern im unteren Bereich, sie investieren zwischen 3,8 Prozent (Bulgarien) und 5,17 Prozent (Litauen).

Neben den prozentual niedrigen Bildungsausgaben fällt zudem auf, dass sich die Gelder auf die einzelnen Bildungsstufen sehr unterschiedlich verteilen. Durchschnittlich geben die 28 EU-Mitgliedstaaten für den primären und tertiären Bereich 1,19 Prozent und 1,27 Prozent des BIP aus, eine Relation von 48 Prozent zu 52 Prozent. Die Werte in Frankreich entsprechen diesem Durchschnitt. In Großbritannien werden anteilig mehr öffentliche Gelder in den primären Bereich als in den tertiären gegeben (58 zu 42 Prozent). In Deutschland wird am meisten in den tertiären Bereich investiert. Hier liegt die Relation bei 32 zu 68 Prozent. Nun mag man einwenden, dass sich das nicht groß von Finnland, dem Vorzeigeland in Bildungsangelegenheiten, unterscheidet (38 zu 62 Prozent). Hier ist allerdings zu beachten, dass in Finnland das Ausgangsniveau mit 1,35 Prozent des BIP für die primäre Bildung mehr als doppelt so hoch ist wie in Deutschland (0,66 Prozent), während die Ausgaben für die tertiäre Bildung deutlich, aber weniger massiv voneinander abweichen (Deutschland 1,40 Pro¬zent des BIP, Finnland 2,17 Prozent des BIP).

Bildung als präventive Arbeitsmarktpolitik

Eine gute Bildung brauchen wir jeden Tag. Gut gebildete Menschen leben länger und gesünder, sie sind politisch und sozial engagierter. Eine bessere Bildung führt zu mehr Teilhabe, auch jenseits des Arbeitsmarkts. Bildung ist auch wichtig für die Positionierung auf dem Arbeitsmarkt, heute mehr denn je. Die Arbeit geht uns in absehbarer Zeit nicht aus, eher fehlen uns die Menschen. In Deutschland steigt der Seniorenquotient rapide und entfernt sich zunehmend vom OECD-Durchschnitt. Im Jahr 1960 kamen 17 von 100 Menschen über 64 Jahre auf die Bevölkerung im Alter zwischen 16 und 64 Jahren; fünfzig Jahre später sind es bereits 32 Menschen (OECD 2013). Damit einher geht eine rasche Steigerung sozialstaatlicher Ausgaben für die Alterssicherung und die Gesundheit. Dieses Ausgabenwachstum beschädigt die »fiskalische Demokratie« (Streeck/Mertens 2010: 10). Der frei verfügbare Teil des Gesamtbudgets sinkt damit immer mehr – von 62 Prozent (1970) auf 20 Prozent (2009). Um der Jugend ihre Chancen zu bewahren, sollte man das Budget für Bildung erhöhen, solange dies noch möglich ist. Selbst wenn wir nur die absolute Zahl gut Gebildeter von heute halten wollen, muss deren Anteil entsprechend steigen. Ressourcen hat Deutschland noch viele, jedes Jahr verschwinden allein 250.000 Jugendliche im Übergangssystem. Angst vor einem Verfall an Bildungsqualität müssen wir dabei nicht haben. Unsere Nachbarn machen uns vor, wie man viele Menschen richtig gut bilden kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst in Hoffmann, R. /Bogedan, C. (Hrsg): Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen – Grenzen setzen. Frankfurt am Main/New York: Campus Verlag. 2015.

Jutta Allmendinger ist Mitglied des Beirats der Stiftung Bildung.

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