Anleitung für ein inklusives Bilderbuch

Anleitung für ein inklusives Bilderbuch

Was ist ein inklusives Bilderbuch?

Inklusion bedeutet die Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft. Ein inklusives Bilderbuch ist so aufgebaut, dass alle Kinder an der Geschichte teilhaben können.

Taktile Bücher für blinde oder sehbehinderte Kinder können über die Braille-Punktschrift mit den Fingern gelesen werden. Zusätzlich enthalten die Tastbücher zahlreiche, fühlbare Materialien. Das können zum Beispiel Holz, Muscheln, Steine oder Materialien wie Teppichreste oder diverse Stoffe sein. Die Geschichte wird meist zusätzlich zur Schwarzschrift in Braille-Punktschrift erzählt.

Kinder Suna und Emilio aus dem Pixi Chancenpatenschafts-Buch

Warum braucht es taktile Bilderbücher?

Jedes Jahr werden in Deutschland rund tausend Kinder blind oder mit einer Sehbehinderung geboren. Hinzu kommen weitere Kinder, die durch Krankheit oder Unfall in den ersten Lebensjahren ihr Augenlicht verlieren. Mit Bilderbüchern wächst ein Kind in die Lese- und Buchkultur hinein. Für blinde und sehbehinderte Kinder sind fühlbare Bücher ein wichtiger Einstieg in die Leseentwicklung. Sie „lesen“ die Materialien und machen durch die Braille-Punktschrift erste Schritte in Richtung Lesekompetenz. Inklusive Bilder- und Kinderbücher gibt es jedoch nur sehr wenige, da sie sehr aufwendig und kostspielig in der Herstellung sind. Unter Berücksichtigung einiger „Spielregeln“ ist die Herstellung eigener Tastbücher gar nicht schwer. Es schärft die eigene Wahrnehmung und sensibilisiert für die Bedürfnisse anderer Menschen.

Bild des Tastbuchs von Anja Kuypers
Foto: Tastbuch „Carlas größter Wunsch“, von Anja Kuypers, herausgegeben vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.

Ein Tastbuch herstellen

Auch für sehende Kinder ist die Herstellung eines Fühlbuches eine spannende Erfahrung. Mit verbundenen Augen können sie unterschiedliche Materialien wie beispielsweise Holz, Wolle oder Stoff und kleine Gegenstände wie Muscheln, Knöpfe, Spielzeugfiguren usw. ertasten. Ideal sind möglichst verschiedene Materialien, die sich am Alltag der Kinder orientieren. Vielleicht entwickelt sich daraus schon eine einfache Geschichte. Oder sie verwandeln ihr Lieblingsbilderbuch in ein tastbares Buch. Dazu überlegen sie am besten gemeinsam, welche wesentlichen Elemente aus der Geschichte mit welchen Materialien dargestellt werden könnten. Die Zusammenarbeit mit blinden oder sehbehinderten Kindern im Projekt wäre hervorragend.

Aufbau eines Tastbuchs

Ein Tastbuch ist ähnlich aufgebaut wie ein Buch für Sehende. Es besteht aus mehreren Seiten und wird von links nach rechts gelesen. Es trägt einen Titel und hat ein Cover. Die Seitengröße des Buches orientiert sich am Alter der Kinder (für Kita-Kinder A5). Die Aufteilung ist immer gleich: Schrift links, Elemente rechts.

Wie in einem Bilderbuch für Sehende ist wichtig, dass die Größenunterschiede in einem mit Materialien dargestellten Bild berücksichtigt werden und sich an der Wirklichkeit orientieren. Auch muss die Perspektive beachtet und nur die Vorderansicht ausgewählt werden. Die Elemente sollen als Form nachempfunden werden, nicht als Umriss. Sie müssen sich gut voneinander abgrenzen und unterscheiden lassen. Für Kinder mit Restsehvermögen ist die Wahl kräftiger Farben wichtig.

Die Elemente können beweglich oder herausnehmbar sein – Abwechslung macht Spaß! Der Kreativität der Kinder sind keine Grenzen gesetzt. Wiederkehrende Inhalte sollten immer mit den gleichen Elementen dargestellt werden. Ergänzende Gegenstände zum Buch können auch separat in einem Säckchen zum Buch mitgeliefert werden. Wer mag, kann auch weitere Sinne (riechen, hören, schmecken) ansprechen.

Film zum Projekt "Punktgenaues Lesen"

Video: Film zum Projekt „Punktgenaues Lesen“ von Anja Kuypers

Inklusives Bilderbuch – Jetzt geht’s los!

Es bietet sich immer an, Stoffreste in verschiedenen Farben und Materialien zu sammeln. Häufig geben Stoffmärkte Kleinststücke auch kostenfrei ab. Lassen Sie die involvierten Kinder und Jugendlichen bereits über Tage vor der praktischen Umsetzung ALLE denkbaren Materialien zusammentragen. Im Klassen-/Gruppenraum kann eine separate Materialecke eingerichtet werden. Je bunter und umfangreicher, desto besser.

Wenn der rote Faden zur Geschichte steht, (bedeutet: die wesentlichen Informationen der Geschichte, als Träger des Ganzen, wurden herausgearbeitet) können die Projektteilnehmenden den Materialtisch in Augenschein nehmen. Vielleicht tragen sie dabei sogar eine Augenbinde, um die Beschaffenheit noch besser spüren zu können.

Beispiele, wie Buchinhalte taktil dargestellt werden können

Fisch: Kleine Pailletten, die schuppenförmig geklebt werden (Vorsicht vor Kleinteilen). Je nach Zielgruppe kann direkt die Form nachempfunden werden, sonst nur ein Ausschnitt der „Haut“.

Qualle: Etwas „Glibbermasse“ in stabile Klarsichtfolie einarbeiten und auf der Buchseite befestigen. Die Form einer Qualle (großer Kopf und einige Tentakel) darstellen.

Schlange: Ausrangierte Ledergürtel bieten sich hier an.

Hirsch: Möglichst verwinkelte Zweige bei einem gemeinsamen Waldspaziergang sammeln. Lediglich den Kopf des Tieres darstellen. Weiche, fellartige Stoffreste eigenen sich hierzu, Knöpfe als Augen, die Zweige als Geweih.

Vogel: Mit kleinen Federn bekleben und große Federn (aus der Natur oder aus dem Bastelbedarf in kräftigen Farben) als Schwanzfedern nutzen.

Text in Braille übersetzen lassen

Es gibt Braille-Übersetzer-Programme im Internet, die den Text in Braille optisch am Bildschirm darstellen. Zum haptischen Erleben werden spezielle Drucker, Schablonen oder Schreibmaschinen benötigt. Für überschaubare Textlängen eignen sich Braille-Schablonen, mittels derer die Texte selbst in Braille geschrieben werden können. Dazu wird zusätzlich eine Brailletafel, ein Schreibrahmen sowie ein Griffel benötigt.

Um längere Texte in Braille übersetzen zu lassen, brauchen Ungeübte Unterstützung. Es empfiehlt sich die Kontaktaufnahme zu Blindenverbänden in Ihrer Nähe und ein Gespräch mit einer Blindenschule. Das Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen aus Leipzig betreibt eine sehr umfangreiche Literatursammlung in Braille zum Leihen oder Kaufen. Zudem werden dort Manuskripte in Schwarzschrift auf deren Braille-Übersetzung geprüft und lektoriert.

Porträtfoto von Anja Kuypers

Anja Kuypers ist ausgebildete Lese- und Literaturpädagogin (BVL) sowie Fachkraft für (früh-)kindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung (sgd). Sie arbeitet als DaZ-Lehrkraft an einer inklusiven Grundschule. In ihrem Projekt „Punktgenaues Lesen“ (Link zu Video auf www.youtube.com) arbeitet Kuypers mit Kindern zum Thema Blindheit und beantwortet die Frage: Nichts sehen können, aber lesen – Wie geht das? Mit selbst gebastelten Tastbüchern werden Geschichten haptisch begreifbar.

Text und Fotografie: Anja Kuypers, Lese- und Literaturpädagogin (BVL), Fachkraft für (früh)kindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung (sgd), www.kapitelreise.de

Foto oben: Tastbuch „Carlas größter Wunsch“, von Anja Kuypers, herausgegeben vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.

Unseren Newsletter abonnieren

Immer informiert bleiben