„Wir sind mitverantwortlich für alles, was passiert“

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

von Wibke Bergemann

Franz Müntefering blickt zurück auf ein ereignisreiches Politikerleben. Im Gespräch erklärt das SPD-Urgestein, wie Erfahrungen helfen können, durch die Corona-Pandemie zu kommen und was ihn dazu bewegt hat, 1966 in die Politik zu gehen. Der 81-Jährige ist überzeugt: Gesellschaftliche Verantwortung endet nicht mit dem Ruhestand.

Er saß 32 Jahre im Bundestag und war Bundesminister für Verkehr und Bauen sowie für Arbeit und Soziales. Den SPD-Vorsitz, den er zweimal innehatte, nannte Franz Müntefering „das schönste Amt nach dem des Papstes“. Mit der „Kampa“-Wahlkampagne verhalf er 1998 Gerhard Schröder ins Kanzleramt und wurde später Vizekanzler in Angela Merkels erster Regierung. Bis heute ist der 81-Jährige aktiv: als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisation (BAGSO) und als Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes Deutschland.

Herr Müntefering, laut einer Studie liegt der Altersdurchschnitt der sogenannten Querdenker bei 47 Jahren. Kommen ältere Menschen mit der Corona-Krise besser zurecht?

Den Eindruck habe ich. Diese Situation ist kein Krieg, uns fallen keine Bomben auf den Kopf. Es ist auch keine Diktatur, du kannst die Klappe aufmachen und eine andere Meinung haben. Du darfst ein Plakat malen und auf der Straße zeigen. Meine Generation weiß, dass das Leben deutlich härter sein kann, als wir das in den letzten 60 Jahren erlebt haben. Vielleicht können wir eher akzeptieren, dass man mal eine Zeit lang unter erschwerten Bedingungen leben muss. Hauptsache, wir kriegen das wieder hin. Man muss aber auch sehen, dass unsere Rente sicher ist, während manch Jüngerem gerade die Lebensperspektive wegrutscht. Ich habe auch einen riesen Respekt vor berufstätigen Eltern, die sich jetzt zusätzlich um ihre Kinder kümmern müssen. Die müssen natürlich sehr viel mehr aushalten als die Älteren.

Sind die Älteren Dank ihrer Lebenserfahrung auch besser gegen rechte Verführer gewappnet?

Alle Menschen sind sehr stark davon geprägt, was sie in ihrer Kindheit und ihrer Jugend erlebt haben. Das bleibt nicht das ganze Leben lang dominant, aber das spielt immer eine Rolle. Ich habe noch Krieg erlebt, ich habe Bomben erlebt, ich habe Deserteure gesehen, die mit erhobenen Händen von Soldaten abgeführt wurden, und die haben nicht mehr lange gelebt. Mein Vater war im Krieg, den habe ich erst kennengelernt, als er aus der Gefangenschaft zurückkehrte, da war ich sechseinhalb. Wir haben 1946 und 1947 Hunger erlitten. Das sind Sachen, die einen prägen. Es ist für mich heute noch schwer auszuhalten, wenn wir Lebensmittel wegwerfen.

In Ihrem Buch „Unterwegs“ beschreiben Sie sehr eindrücklich einen Ausflug 1961 mit Ihrem Bundeswehr-Bataillon nach Frankreich. Als deutsche Soldaten waren Sie nicht gern gesehen, und doch waren Sie dankbar, dort sein zu dürfen. Was bedeutet es für Sie, deutsch zu sein?

Eine Identifikation mit diesem Land war für meine Generation sehr schwierig. Es wurde ja in den 60ger Jahren noch nicht offen über die deutsche Schuld gesprochen. Bei Kriegsende gab es in Deutschland sieben oder acht Millionen ehemalige NSDAP-Mitglieder, die waren ja nicht plötzlich alle weg. Als ich 25 Jahre alt war – das muss man sich mal vorstellen – war der Begriff Holocaust eigentlich noch gar nicht bekannt. 1965 erschien das erste Kursbuch mit einem Dossier zu dem ersten Auschwitzprozess in Frankfurt. Das Buch habe ich heute noch ganz vorne stehen. Wenn man das gelesen hatte, dann wusste man, in was für einer Gesellschaft man lebte. Dann war das mit dem Deutschsein schwer.

1966 sind Sie der SPD beigetreten, ausgerechnet im katholischen Westfalen. Kein leichter Start.

Mir war klar geworden, es reicht nicht, dass die Gedanken frei sind, man muss auch handeln. Das ist bis heute meine Meinung. Wer nicht handelt, der lässt zu. Man kann aktiv oder passiv handeln, aber man handelt immer. Jeder der dabei steht und nichts tut, der hat sehr wohl Verantwortung für das, was da geschieht. Das hat mich mein Leben lang bewegt.

Deswegen war es mir wichtig, vom Turm des Besserwissers herunterzuklettern, aufs Spielfeld zu gehen, Politik zu machen und dazu beizutragen, dass es ein bisschen besser wird. Ich musste dabei lernen, dass alles nicht so leicht ist, wie man sich es vorstellt. Heute bin ich schon stolz auf die Demokratie, die zustande gekommen ist, ich sehe aber auch die Gefahren, in die sie wieder gerät.

Die Agenda 2010 und die Rente mit 67, an deren Zustandekommen Sie entschieden beteiligt waren, werden von Teilen der SPD bis heute nicht akzeptiert. Wie sind Sie mit dem Gegenwind damals umgegangen?

Wer keine Hitze verträgt, der soll nicht in die Küche gehen. Also, wenn man Politik machen will, dann kommt man an Punkte, wo man um den richtigen Weg streiten muss. Das gehört dazu. In den großen Parteien wurden immer verschiedene Meinungen gebündelt und Kompromisse gemacht. Was die Renten mit 67 angeht: Es war damals so, dass die Menschen im Durchschnitt mit 58, 59 Jahren aus dem Beruf ausschieden. Es war ein System der systematischen Frühverrentung. Als wir das Schritt für Schritt verschoben haben, gab es natürlich Widerstand.

Ich habe nicht alles richtig gemacht in meinem Leben, aber die Rente mit 67 und die Grundsicherung für Langzeitarbeitlose, das sind Dinge, zu denen ich stehe, die meines Erachtens richtig waren.

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»Das ist diese Nicht-Handeln-Mentalität, mit der man glaubt, sich rechtfertigen zu können. Aber das ist nicht so.«

Welche Erfahrungen haben Ihnen Ihre Eltern mitgegeben?

Als ich so alt war, dass man mit mir über Politik sprechen konnte, hat mir mein Vater zwei Sachen gesagt. Erstens: Gehe nie in eine Partei! Er hatte die NSDAP als warnendes Beispiel vor Augen. Zweitens: Nie wieder deutsche Stiefel im Ausland! Das war ein Spruch, den ich lange gut fand. Bis ich verstanden habe, was das bedeutet. Seine Generation war der Meinung, man dürfe sich nicht einmischen, man dürfe nicht aggressiv auftreten.

Das heißt aber, dass man sich nicht einmischen darf, wenn in der Welt Dinge passieren, die für die Menschen, die dort leben, eine Katastrophe sind. Bei dieser Ansicht blieb er bei den Aufständen in Ungarn und Prag, bei Hungersnöten in Afrika. Das ist diese Nicht-Handeln-Mentalität, mit der man glaubt, sich rechtfertigen zu können. Aber das ist nicht so. Wir sind mitverantwortlich für alles, was passiert. Wir können zwar nicht allen Menschen helfen. Aber das darf nicht dazu führen, dass wir denen nicht helfen, denen wir helfen könnten.

Lässt sich das auch auf humane Krisen der Gegenwart übertragen?

Ja, beispielsweise das Dilemma am Mittelmeer. Wir können nicht allen helfen, die fliehen wollen. Aber wir dürfen sie nicht ins Wasser schubsen und wir dürfen sie da nicht umkommen lassen, sondern wir müssen versuchen, denen zu helfen, denen wir helfen können. Und das sind mehr als die, denen wir momentan helfen. Das ist eine Lehre aus meinem Leben. Was wir als Kinder und Jugendliche erlebt haben, war nicht schön. Aber es hat uns einiges gelehrt und ich hoffe, dass wir nicht vergessen, dass wir aufeinander angewiesen sind.

Die Meinung älterer Menschen wird gerne als veraltet und aus einer anderen Zeit beiseite geschoben: Sollten sich Ältere zurückhalten?

Es ist wichtig, dass ältere Menschen über ihr ganzes Leben nachdenken und auch sprechen können. Es gibt ja unter den Jungen und Mittelalten viele kluge Leute, die wissen, dass ein älterer Mensch Erfahrungen hat, dass er was mitbringt und dass man daraus auch viel lernen kann.

Sie sind mit 81 Jahren noch in verschiedenen Ehrenämtern aktiv und verfassen Bücher. Was sagen Sie Menschen, die sich im Ruhestand ganz zurückziehen?

Das Rentenalter, so wie wir es kennen, ist eigentlich ein kultureller Irrtum. Als ob es ein Datum gebe, an dem sich das Leben völlig verändern würde. Tut es nicht. Die Menschen werden sehr unterschiedlich alt. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, andere sind noch bis 70 oder darüber hinaus berufstätig. Es sollte eher eine Renteneintrittsphase geben.

Und wenn man geistig und körperlich hinreichend gut drauf ist, dann ist man auch mitverantwortlich. Politik, das ist nicht nur der verfasste Staat, sondern das sind immer auch die Menschen. Es gibt ja sehr viele, die ihre Erfahrungen einbringen und aktiv sind. Ehrenamt und zivilgesellschaftliches Engagement sind ein Stück Gesellschaftspolitik, man nimmt Einfluss auf die Gesellschaft. Das wird völlig unterschätzt. Außerdem tut es einem selbst gut. Es ist eine Win-win-Situation. Man bleibt im Kopf gefordert, muss sich bewegen und kommt mit Menschen zusammen – das wirkt natürlich auch anregend auf das eigene Leben.

»Wenn man geistig und körperlich hinreichend gut drauf ist, dann ist man auch mitverantwortlich.«

Der Philosoph Richard David Precht fordert ein soziales Pflichtjahr, für Schulabgänger ebenso wie für Rentner*innen. Eine gute Idee?

Das Grundgesetz verbietet Zwangsarbeit. Das sollten wir nicht aufweichen. Es gibt ja schon das Freiwillige Soziale Jahr, das auch Ältere machen können. Das könnte man besser bewerben und erklären. Und man sollte den Menschen sagen, bevor du aus deinem Beruf ausscheidest, überleg zusammen mit deinen Freund*innen und Bekannten, was du eventuell noch machen kannst. Rutsch nicht einfach in die Rente rein, ohne zu wissen, wo die Reise hingeht.

Manche fahren den Tank leer und dann ist das Leben vorbei. Aber wer heute in Rente geht, hat noch zwanzig Jahre oder mehr vor sich. Da lohnt es sich, das Leben zu gestalten und aktiv zu bleiben: unmittelbar in der Familie, im Bekanntenkreis, im Verein oder eben auch in gesellschaftspolitischen Aufgaben.

Woher nehmen Sie Ihre Zuversicht?

Wir sind nicht allmächtig, aber auch nicht ohnmächtig. Wir können Einfluss nehmen auf Dinge. Wir sind nicht Spielball irgendwelcher Kräfte, sondern haben selbst eine Menge Handlungsmöglichkeiten. Ich glaube, dass viele Menschen vernünftig genug sind, um sich an Dingen wie dem Grundgesetz oder der UN-Menschenrechtserklärung zu orientieren. Das Grundgesetz ist vielleicht das wichtigste Buch, das wir haben. Man muss es nur lesen – als einen Ausdruck dafür, wie wir miteinander leben wollen. Ich bin kein Pessimist, der sagt, es wird sowieso alles schlecht. Ich bin kein Optimist, der sagt, es wird sowieso alles gut. Zuversicht ist ein Mittelding: Es kann einigermaßen gut gehen, wenn wir uns alle anstrengen. Und es sind genug da, die dabei mitmachen.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 16) auf der Grundlage des darin erschienenen Interviews von Wibke Bergemann mit Franz Müntefering. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

Fotos: Anna Shvets/Pexels; Matthias Zomer/Pexels

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