Weitergeben stiftet Lebenssinn

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum

Was sind die Quellen für ein sinnhaftes Leben? Psychologin und Sinnforscherin Tatjana Schnell fand in ihren Studien einen Grund: Generativität. Die Sorge um nachfolgende Generationen. Erfüllung findet, wer Wissen und Werte weitergibt und Verantwortung übernimmt. Dazu muss man nur eins tun: anfangen. Denn Sinn entsteht durch Handeln.

Ein Interview von Wibke Bergemann

Die Psychologin Tatjana Schnell betreibt Sinnforschung an der Universität Innsbruck. Sie geht der Frage nach, wie sich Lebenssinn messen und erforschen lässt, welches die Quellen für ein sinnhaftes Leben sind und welche Konsequenzen ein solches für die Menschen hat. In ihren Studien hat Schnell viele Gründe dafür gefunden, warum Menschen einen Sinn in ihrem Leben sehen. Der wichtigste: Generativität, also die Sorge und Fürsorge für nachkommende Generationen.

Spielt die Sinnstiftung für die Menschen eine größere Rolle, seit Religion immer mehr an Bedeutung verliert?

In vergangenen Jahrhunderten war die Kirche eine Selbstverständlichkeit und in vielen Lebensbereichen galt: Wir sind Christ*innen, ob im Wirtshaus, in der Familie oder am Arbeitsplatz. Heute gibt es mehr Offenheit und mehr Möglichkeiten, wie wir unser Handeln ausrichten und begründen. Dann muss ich mir aber die Frage stellen, was ich eigentlich will. Und das ist natürlich mit der Frage verbunden: Was finde ich wichtig und sinnvoll?

Gibt es typische Lebensphasen, in der Menschen in eine Sinnkrise geraten?

Das kommt vor allem im Alter zwischen 30 und 50 Jahren vor. Viele Menschen haben die ganze Zeit darauf hingearbeitet, einen Job und Familie zu haben. Wenn sie das erreicht haben, fehlen ihnen plötzlich die Ziele. Das kann ein Gefühl der Leere auslösen. In diesem Alter habe ich mich für einen bestimmten Weg entschieden, viele andere Wege, die mir einmal offenstanden, sind jetzt nicht mehr möglich. Dagegen können Menschen ab 50 Jahren offenbar eher akzeptieren, wie ihr Leben verlaufen ist. Das führt nicht mehr zu existenziellen Krisen. Sie können mit mehr Gelassenheit eine Metaperspektive einnehmen und auf ihr Leben schauen, was alles passiert ist, wohin es sie geführt hat und was noch möglich ist.

»Menschen ab 50 Jahren können mit mehr Gelassenheit auf ihr Leben schauen, wohin es sie geführt hat und was noch möglich ist.«

Wie messen Sie ein sinnerfülltes Leben? Geht das überhaupt?

Ja, das ist die große Herausforderung. Es gibt aber bestimmte Merkmale, die anzeigen, dass Menschen ihr Leben als sinnvoll erfahren. Dazu gehört die Kohärenz, das heißt die Dinge in meinem Leben passen zusammen. Ich muss zum Beispiel in meinem Beruf nicht Werte vertreten, die mir eigentlich widersprechen. Ich habe mein Leben unter Kontrolle und das ist gut, was hier geschieht. Ich gehöre hierher und habe eine Bedeutung durch mein Handeln. Zudem haben es Menschen, die ein sinnerfülltes Leben führen, leichter bei Entscheidungen, denn sie haben eine Orientierung und ihren Weg gefunden. Und nicht zuletzt spielt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen eine wichtige Rolle: Ich habe meinen Platz auf dieser Welt.

Wie gelingt es Menschen, ein sinnerfülltes Leben zu führen?

In qualitativen Studien haben wir 26 Quellen ermittelt, aus denen Menschen den Sinn in ihrem Leben schöpfen. Umfragen haben immer wieder gezeigt, dass die Generativität dabei an erster Stelle steht, bei jungen Menschen wie bei alten, bei Gesunden wie bei Kranken, und das in den verschiedensten Kulturen. Der Begriff Generativität stammt von dem Entwicklungspsychologen Erik Erikson, der damit eine Entwicklungsstufe im späteren Erwachsenenalter bezeichnet, in der man für sich selbst vieles erreicht hat und sich nun um die nachfolgenden Generationen kümmern kann. Es geht darum, in irgendeiner Weise dazu beizutragen, dass es dieser Gesellschaft und den Generationen, die nach uns kommen, gut geht. Allerdings ist das prinzipiell etwas, was in jedem Lebensalter Sinn stiftet – nicht nur bei älteren Erwachsenen.

» Es geht darum, dazu beizutragen, dass es dieser Gesellschaft und den Generationen, die nach uns kommen, gut geht. «

Was kann Generativität konkret sein?

Das Naheliegende ist natürlich Kinder zu zeugen, eine neue Generation zu schaffen. Dann geht es aber auch darum, die Kinder zu begleiten und zu erziehen. Technische Generativität bedeutet, zu bilden, auszubilden, Wissen und Kompetenz weiterzugeben, indem ich zum Beispiel einen Lehrberuf ergreife, in einem Fußballverein als Trainer tätig bin oder Kindern mit Migrationshintergrund Nachhilfe gebe. Zudem gibt es auch eine kulturelle Form der Generativität, also die Weitergabe von Werten, von Sinnsystemen, zum Beispiel in der Kunst oder in der Politik.

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Wir informieren Sie gern über die verschiedenen Möglichkeiten des Stiftens.

Wo kann man anfangen, wenn man seinem Leben mehr Sinn geben möchte?

Gerade in einem schwierigen Moment, vielleicht bei einer Kündigung oder einer Trennung, suchen wir nach Sinn. Wenn Grundannahmen plötzlich infrage gestellt werden oder eine wichtige Sinnquelle wegbricht, dann wird Sinn „frag-würdig“. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, was sie für Möglichkeiten haben, ihrem Leben Sinn zu verleihen. Man muss sich die nötige Zeit und den Raum nehmen, um den essenziellen Fragen nachzugehen. Ab einem bestimmten Punkt bringt es aber nichts mehr, den Sinn im Nachdenken oder in Büchern zu suchen, sondern er muss umgesetzt werden. Sinn ist nur erfahrbar, wenn er in Handeln umgesetzt wird. Das heißt also, tätig werden, ist das Zentrale. Es muss ja nicht gleich ein Berufswechsel oder eine große ehrenamtliche Verpflichtung sein. Man kann damit anfangen, seine Perspektive zu ändern und beispielsweise bewusst den Müll von der Straße aufzuheben, weil man froh ist, an diesem Ort zu leben.

Und was bedeutet Generativität in der eigenen Familie?

Dazu gehört etwa die Weitergabe von Werten und Lebenserfahrungen. Was möchte ich eigentlich meinen Kindern und Enkeln mitgeben? Es ist hilfreich, das aufzuschreiben: Was soll von mir erinnert werden? Was soll mal auf meinem Grabstein stehen? Was möchte ich für ein Mensch gewesen sein? Es lohnt sich, aus dieser Meta-Perspektive auf das eigene Leben zu blicken. Es braucht natürlich auch Raum und Zeit, um diese Gedanken zuzulassen. Am besten, man macht das zu zweit. Ich habe auf meiner Website www.sinnforschung.org eine ganze Reihe von Fragen dazu zusammengetragen. Diese Besinnung auf das Wesentliche ist der erste Schritt. Und dann kann ich mich fragen: Wie kann ich das umsetzen? Wie kann ich diese Dinge auch denen, die nach mir kommen, hinterlassen? Wenn es mir zum Beispiel immer wichtig war, in die Berge zu gehen, kann ich mich im Alpenverein engagieren und dafür sorgen, dass diese Welt erhalten bleibt.

»Wenn es mir immer wichtig war, in die Berge zu gehen, kann ich mich engagieren, dass diese Welt erhalten bleibt.«

Für solche Fragen muss ich mich mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen.

Ja, das ist nicht einfach. Man verdrängt es gern. Manche Menschen werden darauf gestoßen, weil ein nahestehender Mensch verstirbt, oder sie erkranken schwer. Dann bleibt ihnen nichts anderes übrig, als darüber nachzudenken. Aber die meisten anderen müssen selbst einen Weg finden, sich dem auszusetzen. Die Erkenntnis, alleine vor dem Tod zu stehen, löst Angst aus. Es braucht einen gewissen Mut, sich darauf einzulassen, denn das ist schmerzhaft. Unsere Gesellschaft ist sehr darauf aus, glücklich zu sein. Aber wir müssen auch solche existenziellen Gedanken zulassen, denn das sind die Bereiche, wo wir wachsen und wo viele wichtige Ideen und Entwicklungen entstehen.

Das eigene Ende also als Ansporn?

Wenn man sich auf diese Art „bewusstes Leiden“ einlässt, wenn man die Welt realistisch betrachtet und schmerzhafte Gedanken nicht verdrängt, dann kommt auch etwas Konstruktives dabei heraus. Das eröffnet viele neue Blickwinkel und zeigt, was mir wirklich wichtig ist – und wie ich es umsetzen könnte. Und daraus entsteht dann Sinn.

Laut Ihrer Studien sind Menschen mit einem sinnerfüllten Leben sogar gesünder. Wie erklären Sie das?

Nehme ich eine Situation als Gefahr wahr, schaltet der Körper in den Stressbewältigungsmodus und schüttet Cortisol und Adrenalin aus. In gefährlichen Situationen ist dies äußerst hilfreich, aber heutzutage erleben wir so vieles als Bedrohung. Dadurch entsteht ein chronischer Stress, der das Immunsystem schwächt. Ein Mensch, der sein Leben als sinnerfüllt empfindet, geht mit schwierigen Situationen anders um, sodass nicht gleich das Alarmsystem im Körper ausgelöst wird. Wenn ich eine Perspektive habe und weiß, warum es sich lohnt zu leben, dann sage ich mir: „Das schaffe ich“. Und dadurch bekommt auch der Körper ein anderes Signal, als wenn ich denke, „das ist eine riesige Gefahr, der ich ausgeliefert bin“.

Ein erfülltes Leben bedeutet also weniger Stress im Leben?

Im Gegenteil, es kann sogar mehr Stress bedeuten, weil man mehr Verantwortung übernimmt. Aber der Stress wird abgepuffert. Wenn ich einen Sinn im Leben sehe, bin ich eher bereit, die Herausforderung anzunehmen und mit Rückschlägen fertigzuwerden.

Gibt es eine Veranlagung zum sinnerfüllten Leben?

Es hat sich gezeigt, dass Gewissenhaftigkeit eine gute Voraussetzung für Sinnhaftigkeit ist. Das heißt, Menschen, die Verantwortung übernehmen, die verlässlich sind, und die, wenn sie etwas anpacken, es auch zu Ende führen, es leichter haben, Sinn zu finden. Auf der anderen Seite sind sie auch gefährdet, zu viel zu machen und sich ausnutzen zu lassen. Übersteigerte Gewissenhaftigkeit kann auch umkippen in Zwanghaftigkeit.

»Von sich selbst wegzuschauen und für andere etwas zu tun, das ist es, was uns glücklich macht. Das merkt man allerdings erst, wenn man es auch tut.«

Aber auch Menschen ohne die Veranlagung zur Gewissenhaftigkeit können ein sinnerfülltes Leben führen?

Wichtig ist zu erkennen, dass es uns nicht gut geht, wenn wir uns ständig um uns selbst kümmern. Das ist eine typische Fehleinschätzung in unserer selbstzentrierten Gesellschaft. Es geht immer um mich: Ich muss mich weiterentwickeln, ich muss mich bilden, ich muss mein Leben gestalten und das Beste für mich herausholen. Und dabei verlangen wir immer mehr nach Sicherheit und Kontrolle. Aber Sicherheit ist nichts, was Sinn stiftet – ebenso wenig wie die Konzentration auf das eigene Glück. Von sich selbst abzusehen und für andere etwas zu tun, das ist es, was uns glücklich macht. Das merkt man allerdings erst, wenn man es auch tut.

Gastbeitrag des Online-Magazins Prinzip Apfelbaum (Ausgabe No. 4) auf der Grundlage des darin erschienenen Interviews von Wibke Bergemann mit Prof. Tatjana Schnell. Alle Artikel und Ausgaben des Online-Magazins können Sie kostenlos lesen unter: www.das-prinzip-apfelbaum.de

Dies ist ein Gastbeitrag der “Initiative Apfelbaum – mein Erbe tut Gutes“. Die Stiftung Bildung benutzt eine gesellschaftlich bewusst reflektierte Sprache (bspw: mit*, Diskriminierungen vermeidend, Vielfalt der Gesellschaft sichtbar machen u.ä.) in all ihren eigenen Beiträgen, respektiert das Recht am eigenen Wort der*des Autor*in, veröffentlicht auf den eigenen Medien der Stiftung Bildung jedoch nur die der Compliance angepassten Texte.

Fotos: Federico Giampieri/unsplash, GLady/pixabay, eko pramono/pixabay

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